"Sie [Hans Castorp und Joachim Ziemßen] hatten die unregelmäßig bebaute, der Eisenbahn gleichlaufende Straße ein Stück in der Richtung der Talachse verfolgt, hatten dann nach links hin das
schmale Geleise gekreuzt, einen Wasserlauf überquert und trotteten nun auf sanft ansteigendem Fahrweg bewaldeten Hängen entgegen, dorthin, wo auf niedrig vorspringendem Wiesenplateu, die Front
südwestlich gewandt, ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm, soeben die ersten Lichter
aufsteckte."
Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt am Main 2013, Ersterscheinung 1924.
Und dann lockte noch der Berg. In Bern hatte ich mir im Juni in der altehrwürdigen Buchhandlung "Stauffacher" "Der Zauberberg" von Thomas Mann gekauft. War ich schon einmal in der Schweiz, so könnte ich ja auch den Roman lesen, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den Bergen von Davos spielt, so nahm ich es mir vor. Das Buch mit seinen rund 1000 Seiten war seit meinem Kauf mein treuer Begleiter.
Davos liegt wie Sils Maria im Kanton Graubünden, dem größten Kanton der Schweiz und zwar etwa 80 Kilometer von dort aus nördlich. So ergriff ich die Gelegenheit, mit der Rhätischen Bahn (der Eisenbahngesellschaft im Kanton Graubünden) direkt von Sils Maria über St. Moritz nach Davos zu fahren. Dabei kam ich in den Genuss der zutiefst beeindruckenden Albulastrecke, die die Bahn im Schmalspurmodus über zahlreiche Brücken, Viadukte und durch viele Tunnel führt. Seit 2008 gehört diese Bahnlinie zum UNESCO-Weltkulturerbe.
In Davos wollte ich mit eigenen Augen sehen, wo Hans Castorp, sein Vetter Joachim Ziemßen, Mme Chauchat und viele weitere Romanfiguren gelebt hatten in der Hoffnung, von der Tuberkulose zu genesen. Doch wo war es, das Lungensanatorium, das Thomas Mann (1875-1955) als "Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm" beschrieb?
Vor Ort erfragte ich dies. Euch verrate ich es direkt hier: Das Gebäude liegt auf dem Berg Schatzalp auf 1861 Metern über dem Meeresspiegel.
Die Zürcher Architekten Otto Pfleghard und Max Haefeli hatten von 1898 bis 1900 das riesige Gebäude im Jugendstil erbaut. Es wurde am 21. Oktober 1900 eröffnet und diente seitdem als Luxussanatorium, das dank der frischen Bergluft zahlreiche Europäer aus dem Flachland zur Kur anlockte. Einer dieser Gäste war Katja Mann, die Ehefrau von Thomas Mann, die der spätere Nobelpreisträger 1912 auf der Schatzalp besuchte. Das Sanatorium inspirierte Thomas Mann zu seinem großen Roman.
1946 wurde das Antibiotikum Streptomycin erfunden. Damit war die Tuberkulose besiegt. Das Lungensanatorium auf der Schatzalp hatte ausgedient. 1953 wurde es in ein Hotel umgewandelt.
An der Fassade und innerhalb des Gebäudes wurde wenig verändert. So kann man sich, wenn man in der Lobby des Hotels sitzt und in "Der Zauberberg" liest, sehr genau vorstellen, wie Hans Castorp und sein Vetter Joachim Ziemßen stundenlang auf den Balkonen liegen und die frische Höhenluft einatmen.
Direkt neben der Lobby liegt der Speisesaal, in den man hinein lugen kann und die Türen sieht, die Madame Chauchat zuknallte, bevor sie sich ihrer Tischgesellschaft anschloss und Hans Castorp sie vergötternd beäugte. Ebenso kann man auf den Fluren schreiten und nach dem Zimmer mit der Nummer 34 suchen, das Hans Castorp zwischen seinem Vetter und dem "etwas salopp und lauten" russischen Ehepaar bewohnte.
Ein paar Stunden lesend auf der Schatzalp entfalten ihre eigene Magie. So wie Hans Castorp dort sieben Jahre statt der geplanten drei Wochen blieb, verstrich bei mir die Zeit nach den eigenen Gesetzen der Bergwelt: Erst als ich die letzte Seite des Romans gelesen hatte, verließ ich den Zauberberg und stieg hinab ins Tal.